Der Text "Mehr Humboldt bitte! - Oder: Geburt und Werden der Volkshochschule aus dem Geist eines preußischen Reformers" ist gerade in den "Hessischen Blättern für Volksbildung" anlässlich des 100. Jahrestages der Volkshochschule erschienen.
„Auch Griechisch gelernt zu haben“, so hätte Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) über die Volkshochschule gesagt, „könnte dem Tischler ebenso wenig unnütz seyn, als Tische zu machen dem Gelehrten.“
Tatsächlich ist die Volkshochschule, obgleich Jahrzehnte nach dem Tod des preußischen Gelehrten und Staatsmannes entstanden, aus dessen Geist geboren.
Der Staat müsse durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen verloren habe, meinte 1808 König Friedrich Wilhelm III. von Preußen nach der Katastrophe des verlorenen Krieges gegen Napoleon. Der König beauftragte daher Humboldt, den gebildeten, weltgewandten Juristen, das preußische Unterrichtswesen zu reformieren. Doch der zögerte.
Bildung, damit die Landeskinder wissen, wie sie als Untertanen dem Staat am besten zu dienen haben?
Zu utilitaristisch, zu englisch erschien dem preußischen Patrioten diese Vorstellung. Humboldt fiel wieder diese Idee ein, die ihm fast zwanzig Jahre zuvor gekommen war: Nicht staatliche und berufliche Nützlichkeiten sollen im Zentrum der Bildung stehen, sondern der Mensch selbst, samt seiner körperlichen und intellektuellen Kräfte.
„Der wahre Zweck des Menschen“, schreibt Humboldt 1792, „ist die höchste, proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“ ( Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, in: Werke I, Darmstadt 1980, S. 64)
Die Aufklärung spricht aus diesem Satz; der Gedanke, dass nicht der Untertan, sondern der Bürger, wo auch immer er stehe im großen Gefüge des Staates, über öffentliche Angelegenheiten Bescheid zu wissen, zu befinden habe und dass er sie deshalb verstehen, sich dafür bilden müsse.
Diese Idee ging ein in Humboldts Vorschläge zur Reform des preußischen Unterrichtswesens. In seinen Schulplänen von 1809 ist immer wieder von der „allgemeinen Menschenbildung“ die Rede, durch die „die Kräfte, d. h. der Mensch selbst gestärkt, geläutert und geregelt werden sollen.“ (Wilhelm von Humboldt: Litauischer Schulplan 1809. zitiert in: Werke V, Darmstadt 1980, S. 188)
Mehr noch: Diese Idee sollte stilbildend werden in den deutschen Staaten. Sie begründete ein Ideal, das neben Schulen und Universitäten auch die Handwerker- und Arbeiterbildungsvereine im 19. Jahrhundert hochhielten, die am Abend Kurse für deutsche Geschichte, Literatur und Griechisch organisierten.
Sicher, für die sozialistisch geprägten Vereine war das Schulung für das proletarische Klassenbewusstsein. Doch den liberalen Bildungsvereinen war dergleichen fremd: Tischler, Schuster und Maschinenbauer „paukten“ dort Schlachtendaten, Stilbezeichnungen und ganze Phrasen aus Cäsars „De bello Gallico“, nicht um zu rebellieren oder sozial aufzusteigen, sondern um respektiert zu werden. Tatsächlich saß bei manchem kleinen „Herrn“ die Hand weniger locker, wenn sein Untergebener wusste, wer Albrecht Dürer war oder er einen Vers von Hölderlin aufsagen konnte.
Für viele war das gar ein Schritt zur Lösung der „sozialen Frage“.
Die „Volkshochschule“, deren große Zeit 1918 begann, griff diesen Gedanken zunächst auf. Im „Volkshochschulrummel“, der bis 1923 dauerte, entstand ein pluralistisches Volkshochschulsystem, gefördert von Kirchen, Gewerkschaften und schließlich auch vom Staat, professionalisiert durch feste Gebäude und gut ausgebildete Lehrer, besucht vor allem von Angehörigen der unteren und mittleren Schichten. Nachdem sie durch Massenwahlrecht und Sozialstaat an politischer Willensbildung und gesellschaftlichem Reichtum partizipieren konnten, verlangten sie über die Volkshochschule nun auch Teilhabe an der Kultur – „Volksbildung“, so hieße es, könne die verschiedenen Glieder der Gesellschaft miteinander versöhnen.
Doch in wirtschaftlichen Krisenzeiten erwies sich das als Illusion.
So machte sich schrittweise „Aufstiegsorientierung“ in den Volkshochschulen bemerkbar, wurden Forderungen laut, mehr „Pragmatismus“, mehr „Realien“ in den Kursen zu berücksichtigen. Etwa weniger deutscher Kunstgeschichte zur Erbauung zu unterrichten, sondern mehr Stenographie für die Arbeit im Büro.
„Weiterbildung Erwachsener“ war daher ab den frühen 1930er Jahren die Maxime der Volkshochschulen, für alle diejenigen, „die Volks- und Berufsschulen besucht haben.“ (Olbrich, Josef: Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland, Bonn 2001, S. 214)
Auch Nationalsozialisten und Kommunisten hielten nichts von der Idee, dass Bildung einen Wert an sich darstellt. Für die einen war die Volkshochschule ein Vehikel, um die NS-Ideologie zu transportieren und später die Volksgenossen für kriegswichtige Dinge zu befähigen. Für die anderen sollten dort am Abend „Werktätige“ fehlende Schulabschlüsse nachholen.
Genauso waren im westlichen Teil Deutschlands seit der 1964 durch Georg Picht ausgerufenen „Bildungskatastrophe“, die Volkshochschulen zu staatlich geförderten Weiterbildungs- und Berufsfortbildungsinstituten geworden. Durch die „Bildungsexpansion“ der 1960er und 1970er Jahre absolvierten immer mehr junge Leute das Abitur, studierten an Fachhochschulen und Universitäten – heute sind es fast 40 Prozent der Angehörigen eines Geburtsjahrganges, im Vergleich zu lediglich 20 Prozent im Jahre 1960, wobei es naiv und falsch wäre anzunehmen, dass die Bevölkerung heute doppelt so gebildet wäre wie 1960.
Den Volkshochschulen sollten nach wie vor vorhandene Bildungsungleichheiten und Klassenschranken der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ beseitigen – mit Bildungsinhalten, die sich verwerten lassen, versteht sich: Statt Lehrgängen für das Latinum oder Graecum gab es daher nun immer mehr solche für Wirtschaftsenglisch und -französisch; statt Kursen, die wenig beachteten Komponisten und Malern gewidmet waren, immer mehr solche für Computerprogramme.
Es gab die „Bolognalisierung“ der Volkshochschule, lange vor dem „Bologna-Prozess“.
Damit begab sich die Volkshochschule in Konkurrenz zu unzähligen privaten Instituten, die statt Bildung im humboldtschen Sinn zu vermitteln, ebenfalls auf praxisorientierte Ausbildung setzten und dabei mit kleineren Klassen, besser bezahlten Lehrern und größeren Lernerfolgen aufwarten können.
Es ist daher kein Wunder, dass die Volkshochschulen heute zu einem Konglomerat aus Bildungssozialämtern und Selbsthilfegruppen für verwertbares Wissen zu werden drohen: Weil dort hauptsächlich Migranten Deutsch- und Deutsche Englischkurse belegen, die sie sich anderswo nicht leisten können; weil sich dort ansonsten Fächer großer Beliebtheit erfreuen, die eher eine Sache für Medizinzentren oder Vereine wären: zum Beispiel Gymnastik- und Fitnesskurse, Entspannungstechniken oder gesunde Ernährung.
Natürlich ist per se nichts gegen eine Volkshochschule zu sagen, die alle diese nützlichen Kurse zur Berufs- oder Selbstfindung anbietet: Wir brauchen auch kostengünstige Sprach- und Computerkurse an der Volkshochschule. Wir brauchen sie vor allem für die sozial Schwächeren.
Doch wenn heute, von der Schule über die berufliche Bildung bis hin zur Universität immer mehr das Ausbildungsprinzip dominiert; wenn heute immer öfter verwertbares Wissen verlangt wird – wäre es dann nicht fatal, in der Volkshochschule die letzte Chance ungenutzt zu lassen, Bildung als jene zweckfreie Angelegenheit Humboldts zu betrachten?
Denn wenn Bildung „frei“ ist von vordergründigen „Zwecken“, bedeutet das keineswegs, dass sie „zwecklos“ ist.
Gerade die Freiheit des Denkens fördert Kreativität und die Fähigkeit zur Innovation. Das unterstreichen die noch der klassischen Bildungstheorie verpflichteten Wissenschaftler heute, das wussten Dichter und Denker wie Goethe, Karl Philipp Moritz oder Friedrich Schiller schon vor rund 200 Jahren: So spricht letzterer in seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ von der „Bestimmungslosigkeit“ von Sinnen und Verstand, die gerade dadurch neu „bestimmbar“ werden würden, da sie „offen“ seien für Neues, so dass aus einer „leeren“ eine „erfüllte Unendlichkeit“ werden könne.
Mit anderen Worten: Wenn sich der Geist ausschließlich auf naheliegende Probleme fixiert, fährt er sich fest und beraubt sich fernerliegender Möglichkeiten, sie zu lösen.
Das zu verhindern, wäre heute eine lohnende Aufgabe für die Volkshochschule; und das mit Lehrangeboten in die Tat umzusetzen, die sich am humboldtschen Bildungsideal orientieren, wäre zweifelsohne ein enormer Gewinn für die Gesellschaft, kein Rückschritt, sondern ein Fortschritt heraus aus der utilitaristischen Beliebigkeit.
Nach 100 Jahren ihrer Existenz sollte sich die Volkshochschule daran erinnern, aus welchem Geist sie geboren wurde.
Dr. Götz Frömming, Berlin im November 2018
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